Auflagenschwund, Rezession, Entlassungen: Deutschlands Verlegern geht in der Krise langsam die Puste aus. Zeit für neuen Mut und ein Bekenntnis zu gedruckten Medien.
Ohne Zweifel, Alfred Draxler, stellvertretender Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, war auf deftige Sprüche eingestellt, als er am 10. November 2008 Dieter Bohlen zur öffentlichen Blattkritik in der Hauptstadtredaktion begrüßte: „Wir sind auch bereit, im Netz einige Aussagen von Ihnen zu zensieren oder zu piepen.“
Stattdessen überraschte der Musikproduzent die Runde am Newsdesk mit Gespür für aktuelle Herausforderungen der Verlagsbranche: „Wie kann man die gedruckte Ausgabe einer Zeitung stärken, wie kann man die verkaufte Auflage am Kiosk hochhalten?“, fragte Bohlen und setzte spontan die zurzeit schwierigste Aufgabe der Zeitungsmacher auf die Tagesordnung seines kurzen Besuchs.
Man muss in diesen Tagen kein Verleger sein, um zu erkennen, dass die Medienbranche weltweit in einer Krise steckt: sinkende Auflagenzahlen, Verluste im Anzeigengeschäft, eine schwierige gesamtwirtschaftliche Lage sowie die Abwanderung der Leser zu alternativen Publikationsplattformen bringen Branchenvertreter dazu, von der schlimmsten Krise seit 2001/2002 zu sprechen.
Die aktuellen Zahlen des Audit Bureau of Circulations, das die Auflage der US-amerikanischen Zeitungen misst, übertreffen die Befürchtungen. Innerhalb der im September 2008 abgeschlossenen 6-Monats-Periode sanken die Auflagen der 507 amerikanischen Tageszeitungen um fast fünf Prozent – doppelt so viel wie im Vorjahreszeitraum.
Die Aktie der „New York Times“ erreichte zum Ende der 47. Woche 2008 mit 5,34 Dollar den tiefsten Stand seit 25 Jahren. 100 Redakteure hat das Traditionsblatt 2008 entlassen, landesweit kürzten die Tageszeitungen schon mehr als 24.000 Stellen.
Europa erreichte die Zeitungskrise im November 2008 mit voller Wucht. Die große britische Tageszeitung „The Independent“ meldete, sie werde ein Viertel ihrer Redaktion – 90 Leute – vor die Tür setzen. Die „Neue Zürcher Zeitung“ kündigt ebenso Stellenabbau an wie in Deutschland die „Süddeutsche Zeitung“. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)“ verhängte einen Einstellungsstopp.
Der Verlag Gruner + Jahr kündigt allen 110 Beschäftigten bei „Capital“, „Impulse“ und „Börse Online“ am Standort Köln. Gerade einmal 50 Stellen werden im Stammhaus in Hamburg wiederbesetzt, mit wahrscheinlich schlechteren Gehältern. Das Lifestyle-Magazin „Park Avenue“ mit 23 Mitarbeitern wird sofort eingestellt. Die selbst verordnete Schrumpfkur der Medienhäuser kommt nicht überraschend.
Viele Verleger erinnert die aktuelle Finanzkrise an die Auswirkungen der geplatzten Dotcom-Blase von 2001/2002. Die Aktien- und anschließenden Konjunktureinbrüche veranlassten die Unternehmen zu sparen. Werbeetats wurden gestrichen, weniger Anzeigen geschaltet. Dabei konnte man 2001/2002 tatsächlich von einer Medienkrise sprechen. Jetzt haben wir eigentlich eine weltweite Wirtschaftskrise, die natürlich die Medien ebenso trifft wie alle anderen Branchen auch.
Viele Verlage haben in den Folgejahren 2002, 2003 die notwendigen Hausaufgaben gemacht. Gerade in der Verlagsbranche wurden tausende Mitarbeiter entlassen und in den Jahren 2005 bis 2008 teilweise wieder eingestellt. Eine grundlegende Änderung der Denk- und Arbeitsweise gab es nur in ganz wenigen Verlagshäusern, aber in den meisten Häusern wurde auf der Verlagsseite nur zögerlich und in den Redaktionen oberflächlich gespart.
Laut einer Studie von PricewaterhouseCoopers sollen 2009 die Werbeerlöse der gesamten Medienbranche um ein Prozent sinken. Der Branchenverband der deutschen Werbewirtschaft ZAW rechnet mit einem Minus von bis zu zwei Prozent. Klaus Jarchow, Autor des Blogs „Medienlese.com“ zieht ein düsteres wie nüchternes Fazit für die Zeitungsbranche: „Print wird zu einem Auslaufmodell des Journalismus.“
Ist die aktuelle Krise der Todesstoß für die gedruckte Zeitung? Führt das fatale Zusammentreffen von Auflagenverlust und Konjunkturschwäche mittelfristig zum Stillstand der Druckmaschinen?
Für Branchensenior Rupert Murdoch ist die Antwort klar. In einer Radioansprache der Australian Broadcasting Company (ABC) ließ er die Verleger wissen: „Es ist nicht unsere Aufgabe, tote Bäume zu bedrucken. Unsere Aufgaben sind guter Journalismus und einwandfreie Urteilsfähigkeit.“
Wer in dieser Zeit eine der Werbe- und Mediengroßveranstaltungen besuchte, konnte sich wie auf einer großen Trauerfeier fühlen. Dabei müssen wir uns fragen, ob und wie die Entwicklung im amerikanischen Markt auch für Deutschland zutreffend ist. In England macht es nach wie vor Spaß, die „Times“ in die Hand zu nehmen. Sie hat sonnabends 132 Seiten, davon 48 Seiten Anzeigen ohne Stellenmarkt. Das sind 37 Prozent, und darunter finden wir alle Kundenkategorien, die sich deutsche Zeitungsverleger nur wünschen können, und selbst der berühmte englische Humor hat seinen Platz. Von dem Eineinhalb-Kilo-Informationspaket der „Sunday Times“ wollen wir hier gar nicht weiter sprechen.
Bisher ging es den deutschen Zeitungsverlegern doch nach wie vor glänzend. Auch wenn viele Markenartikler ihre Werbung schon seit den 80er-Jahren immer stärker im TV platziert haben, so war es der Einzelhandel, der den regionalen Abo-Zeitungen große Anzeigenumsätze beschert hat. Gut, auch die sind heute weniger geworden, aber viele Verleger sind doch die Eigentümer der großen lokalen Anzeigenblätter, die mit niedrigsten Redaktions- und Herstellkosten heute als die Gewinnbringer im großen Stil angesehen werden müssen.
Natürlich gehen die Auflagen seit Jahren zurück, aber dass daran allein die Elektronik oder das Internet schuld sind, kann man getrost bezweifeln. Zumindest wenn die Innovationslust der Verleger so überschaubar bleibt wie bisher. Die Zeitung immer so zu machen, wie der treue Abonnent sie gewohnt ist und wie er sie gern behalten möchte, führt zwangsläufig dazu, junge, neue Leserschaften nicht zu gewinnen.
Früher wurde Privat-TV als attraktiver Wettbewerber verteufelt, auch Privatradio, dann hat man sich dort beteiligt. Jetzt verlieren die Zeitungen Nutzer ans Netz, weil sie selbst ein notwendiges Mindestmaß an Modernität und Innovationskraft vermissen lassen. Die viel zitierte Kinderseite am Wochenende ist doch seit Jahren völlig untauglich, um neue Leser zu gewinnen.
Bei Zeitschriften müssen wir zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, dass die Zahl der IVW-gemeldeten Titel seit 2002 um gut zehn Prozent zugenommen hat. Waren es 2002 noch 800 Titel, so sind es 2007 sogar 886 Zeitschriften in verschiedenen Themenfeldern und Erscheinungsweisen. Die Gesamtauflagenentwicklung dieser Titel hat im selben Zeitraum um insgesamt gut vier Prozent abgenommen. Wurden 2002 insgesamt 123,7 Millionen Exemplare verkauft, dann waren es 2007 noch 118,8 Millionen Exemplare. Im selben Zeitraum verlor der Einzelverkauf stärker als die Bezugsform des Abonnements.
Auch für Zeitschriften gilt, dass die älteren Zielgruppen die intensiveren und häufigeren Nutzer sind. Die jüngeren Zielgruppen bis 39 Jahren nutzen Zeitschriften heute deutlich weniger als die älteren. Das heißt, dass diese Entwicklung nicht nur der Attraktivität von TV und Internet geschuldet ist, sondern auch der mangelnden Kraft der eigenen Erneuerung.
Wenn wir die jüngste Vergangenheit betrachten, dann sehen wir, dass es in fast allen Jahren erfolgreiche Zeitschriftenneugründungen gegeben hat. Vor Jahren schon hatten wir eine Welle von Auflagenrennern bei den Pockets wie „Joy“ und „Glamour“, aktuell jubeln alle über „Neon“ und „Landlust“, aber auch im Programmzeitschriftenmarkt gab es immer wieder neue Titel, die sich im Einzelverkauf (EV) auf die Dauer langfristig am Markt durchgesetzt haben. „TV 14“ und „TV Direkt“ sind die beiden erfolgreichsten EV-Titel mit 14-täglichen Auflagen von über einer Million verkauften Exemplaren im Handel.
Das Internet: talentiert, aber unreif
Vorreiter für die von Murdoch skizzierte Zukunft der Zeitungsmacher könnte das 1908 gegründete Bostoner Blatt „Christian Science Monitor“ sein. Angesichts eines Verlusts von 19 Millionen Dollar (2008) wird die mit mehreren Pulitzer-Preisen ausgezeichnete Zeitung ab April 2009 an Werktagen nur noch online zu lesen sein. Vorteil: Die Strategie bewahrt die Redaktion vor Personaleinsparungen.
Leser, die sich noch nicht an die Online-Welt gewöhnen wollen, können täglich eine Zusammenfassung der wichtigsten Artikel ausdrucken oder für 89 Dollar eine wöchentliche Sonntagsausgabe des „Monitor“ abonnieren. „Schließlich gibt es nichts Schöneres, als bei einem Kaffee die Zeitung zu lesen“, sagte „Monitor“-Redakteur John Yemma der „New York Times“.
Solche Gewohnheiten und Sentimentalitäten der Leser sind beim Vollzug des Medienwandels nicht zu unterschätzen. Eine Online-Ausgabe duftet nicht nach Druckerschwärze und lässt sich weder falten noch blättern. Kein Computerbildschirm liefert die Übersicht einer gut gestalteten, gedruckten Zeitungsseite. Und solange Displays mobiler Endgeräte so lesefreundlich sind wie das Kleingedruckte in der Handy-Werbung, ist das Internet keine Alternative für traditionelle Zeitungsleser.
Auch Medienexperten wie Ken Doctor, Analytiker beim auf den Medienmarkt spezialisierten Marktforschungsunternehmen Outsell, sehen den radikalen Umzug der Inhalte ins Internet und auf mobile Endgeräte skeptisch. In seinem Blog „Contentbridges.com“ erklärt Doctor, warum die Strategie des „Monitor“ für die meisten anderen Zeitungen keine Alternative ist. „Im vergangenen Jahr haben die Printprodukte rund 92 Prozent der Erlöse erwirtschaftet. Gleichzeitig kann heute noch kein US-Zeitungsverleger mehr als 13 Prozent Gewinn aus digitalen Medien erzielen.“
Ein Verhältnis, das sich nach Ansicht des US-Medienkritikers Tom Rosenstiel vorerst nicht ändern wird. „Das Internet ist keine ideale Werbeplattform für Zeitungen“, sagte Rosenstiel der „Süddeutschen Zeitung“. „Selbst wenn die Leser ihrer Nachrichtenmarke treu bleiben, hat die Abwanderung ins Internet fatale Folgen für die Einnahmen der Verlage.“ Martin Werfeli, der neu gewählte Verwaltungsrat der Schweizer Ringier-Gruppe, resümiert: „Mit Information kann man im Internet kein Geld verdienen.“
Besonders schwer tun sich gerade die erfolgreichen Verleger von Zeitungen und Zeitschriften, wenn sie versuchen, ihre ertragsstarken Printmarken im Netz zum Erfolg zu führen. In Deutschland gibt es nur ganz wenige Beispiele geglückter Markentransfers. Was zunächst wie ein großer Wettbewerbsvorteil erscheint, die Verfügbarkeit einer bekannten und gut angesehenen Printmarke, erweist sich beim Transfer ins Netz vor einem anderen Publikum oftmals als Beschränkung.
Die Studie „Jugend Information (Multi)media (JIM)“ des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest von 2008 diagnostiziert ein sich wandelndes Medienverhalten. Das Ansehen von Zeitschriften und Zeitungen sank bei den Jugendlichen zwischen zwölf und 19 Jahren in den vergangenen zehn Jahren von neun und acht auf zwei Prozent.
Dagegen wollen 25 Prozent der Befragten nicht mehr ohne Computer sein. Prozent halten das Internet für unverzichtbar. Stephan Weichert, Medienwissenschaftler am Berliner Institut für Medien- und Kommunikationspolitik, sagte der „Welt“: „Ich halte es für eher unwahrscheinlich, dass Jugendliche und junge Erwachsene, die nicht bereits in ihrer Schulzeit oder spätestens zu Beginn des Studiums mit der Print-Lesekultur sozialisiert wurden, später zu Zeitschriften und Zeitungen greifen“.
Aber auch ältere Menschen fühlen sich vom Internet als neuem Medium angesprochen. Fast jeder Dritte der 60- bis 79-Jährigen ist laut ARD/ZDF-Onlinestudie 2008 im Netz unterwegs. Die Steigerungsraten für Internet-Anschlüsse sind unter den Silver-Surfern am größten.
Dieselbe Studie zeigt aber auch, dass es für Verleger fatal sein kann, einfach nur zu glauben, die wachsende Zahl der Nutzer im Internet würde automatisch die Online-Ableger der klassischen Tageszeitungen aufsuchen. 57 Prozent derer, die häufiger oder gelegentlich aktuelle Nachrichten im Netz suchen, nutzen die Newsportale von Internet-Anbietern und Suchmaschinen. Nur 13 Prozent gehen gezielt auf Web-Angebote von Wochenzeitschriften und Wochenmagazinen wie zum Beispiel „Spiegel Online“ oder „Focus Online“.
Für die Verleger bedeuten diese Zahlen, mehr Geld in Technik und Qualität investieren zu müssen. Vorreiter könnte einmal mehr der 77-jährige Medienmogul Rupert Murdoch sein. In seiner ABC-Radioansprache warb er für das neue 3-Säulen-Modell des „Wall Street Journal“: frei zugängliche Nachrichten für jedermann, Hintergrundberichte für Abonnenten sowie ein Premiumbereich, der von seinen Nutzern personalisiert werden kann. Den Journalisten und Kollegen warf Murdoch vor, „fehlgeleitete Zyniker“ zu sein, die „mehr Zeit mit dem Verfassen ihres Nachrufs verbringen, als die aufregenden Chancen ihres Metiers zu entdecken.“
Gratis um die ganze Welt
Zeitungsmacher müssen sich also etwas einfallen lassen, wenn sie die gedruckten Ausgaben stärken und die Online-Auftritte profitabel machen wollen. Für die „Bild“-Zeitung hatte sich Dieter Bohlen bereits den Kopf zerbrochen. Der launigen Idee, die Zeitungsseiten jeden Tag mit einem anderen Parfüm einzuschmieren, ließ der Diplom-Kaufmann bei seinem Besuch in der Hauptstadtredaktion einen ökonomisch durchaus sinnvollen Vorschlag folgen: Die Leser sollten Bonuspunkte aus der Zeitung ausschneiden, sammeln und am Jahresende gegen ein kostenloses Abonnement einlösen können. Über die Details, so Bohlen, müsste sich mal eine Marketingfirma Gedanken machen.
Tatsächlich offenbart der Bohlen-Vorschlag bei näherer Betrachtung ein charmantes Detail, das Leser zum Griff zur Zeitung animieren kann: die Gratisinformation. Vor allem Leser, die mit der Online-Welt vertraut sind, sehen nicht ein, dass sie für eine gedruckte Tageszeitung Geld ausgeben sollen, wenn sie den Inhalt im Internet kostenlos lesen können.
Diese Leser sind das Argument für Macher von Gratiszeitungen, die sich – vom deutschen Publikum weitgehend unbemerkt – weltweit verbreitet haben. In 58 Ländern werden täglich rund 44 Millionen Gratiszeitungen verteilt, allein in Europa sind es 28,5 Millionen – 2000 waren es auf dem Kontinent nur knapp sechs Millionen. In Island, Dänemark, Spanien und Portugal ist die Summe der gratis verteilten Blätter größer als die Auflage der Kaufzeitungen. Nirgendwo in Europa werden gegenwärtig mehr Gratistageszeitungen gedruckt als in der deutschsprachigen Schweiz.
Der Erfolg basiert auf einer einfachen Rechnung, die – so wird erzählt – 1973 im Stockholmer Journalistenkolleg aufgemacht wurde. Thema der Stunde: Kosten- und Erlösstrukturen einer Tageszeitung. Typischerweise finanzieren sich Tageszeitungen durch eine Mischkalkulation aus Vertriebs-(Abonnement und
Einzelverkauf) und Anzeigenerlösen.
Als der Dozent erklärte, dass die Einnahmen durch das Abogeschäft gerade einmal die Kosten decken, die durch den Vertrieb der abonnierten Zeitungen entstehen, hatte ein Student die geniale Idee: „Wenn das stimmt, könnte man ja die Zeitung auch verschenken, vorausgesetzt, man brächte die Leser dazu, sie abzuholen!“
In Pelle Anderson, der damals auch in der Klasse saß, war die Geschäftsidee seines Lebens geboren. 22 Jahre später, im Februar 1995, startete er in Stockholm mit „Metro“ die erste Gratiszeitung. Verteilboxen an den Stationen der Nahverkehrsgesellschaft brachten Zeitung und Pendler zusammen.
Heute hat „Metro“ 84 Ausgaben in 23 Ländern – aber nicht in Deutschland. Der Versuch der konkurrierenden schwedischen Verlagsgruppe Schibsted, 1999 in Köln die Gratiszeitung „20 Minuten“ zu lancieren, mündete im „Kölner Zeitungskrieg“. Die ansässigen Verlage DuMont Schauberg und Axel Springer torpedierten das Projekt mit eigenen Gratisblättern und Klagen wegen unlauteren Wettbewerbs, die allesamt erfolglos blieben.
Zwei Jahre später zog sich Schibsted vom deutschen Markt zurück. Seitdem sind Gratiszeitungen in Deutschland immer wieder ein Thema, bei dem sich Tageszeitungsverleger in hohem Maß besorgt zeigen. Dabei vertreiben sie selbst häufig Anzeigenblätter oder kostenlos beigelegte Programmzeitschriften wie „rtv“ oder „prisma“ in Millionenauflage.
Ein Gerichtsurteil verkündete kürzlich das juristische Kuriosum, dass Gratiszeitungen nur so zu nennen sind, wenn sie täglich erscheinen. Wenn sie wöchentlich erscheinen, heißen solche Publikationen Anzeigenblätter. Wer morgens einmal junge Zielgruppen Zeitung lesend sehen möchte, dem empfiehlt sich eine Fahrt mit einer der Zürcher Straßenbahnen.
Gratis ist übrigens das Thema der Zeit. TV gratis, Internet gratis und viele an sich hochpreisige Zeitungen und Zeitschriften, die an unterschiedlichsten Stellen für Leser gratis zu bekommen sind. Außerdem gibt es mittlerweile eine Reihe von intelligenten Konzepten, die für den Verbraucher oder Leser hochwertig erstellte Produkte gratis zugänglich machen. Dazu gehören alle Produkte, die in Flugzeugen, Hotels oder Apotheken kostenlos zur Verfügung gestellt werden.
Die Zeitung des kommenden Jahrzehnts
Für die Leser ist diese Tabuisierung der Gratiszeitung durch die Verlage nicht mehr nachvollziehbar. 46 Prozent der deutschen Verbraucher sind der Meinung, dass Gratiszeitungen, auch wenn sie mehr Anzeigen hätten, dazu beitragen würden, die Attraktivität der Zeitung als Medium zu steigern. Zu diesem Ergebnis kommt das Berliner Marktforschungsinstitut Mindline Media in seiner im Oktober 2008 vorgestellten repräsentativen Studie „Mindline Media Report“.
Sicher ist, dass in den Schubladen aller großen deutschen Verleger Entwürfe für Gratisblätter liegen. „Eine Gratiszeitung für Deutschland wird zweifelsohne einmal kommen“, sagte Post-Chef Frank Appel Mitte November 2008 der „Frankfurter Rundschau“. Gleichzeitig dementierte er Pläne für eine eigene Gratiszeitung der Deutschen Post. Sollte aber ein Verleger den Mut haben, die Auflage von 30 Millionen zu drucken, würde die Deutsche Post diese Exemplare natürlich gern zu den Briefkästen bringen. In der „Financial Times Deutschland“ ergänzte Appel: „Die Zustellkapazitäten reichten allerdings nur für ein Produkt.“
Sicher, die Entscheidung für ein Gratiszeitungsprojekt erfordert Mut. Aber ist sie auch sinnvoll? Eva Keller, Unternehmenssprecherin der Schweizer Medien-gruppe AZ Medien, ist skeptisch. In einem Online-Artikel des „European Journalism Observatory“ weist sie auf die Konjunkturabhängigkeit der Gratispresse hin.
Ihr Unternehmen hatte im Juni ein für 2008 geplantes Gratiszeitungsprojekt erst einmal zurückgestellt. Es könne sein, sagte Keller, dass die Pendlerausgaben ihren Zenit schon überschritten haben und schon bald die nächste Phase erreicht ist, in der dann Online und mobile Endgeräte die Hauptrolle spielen. Allerdings ist die Schweiz mit vier Gratistiteln auch überversorgt.
Diese Ansicht teilt der Leipziger Journalismusprofessor Michael Haller, der Gratiszeitungen in 21 europäischen Ländern untersucht hat: „Papier wird bei den besonders eifrigen Pendlern im Alter zwischen 20 und 36 Jahren völlig ‚out‘ sein. Aber: Bis die Leser die Fahrt zum Arbeitsplatz ausschließlich mit mobilen Angeboten füllen werden, vergehen noch zehn bis 15 Jahre.“
Haller macht den Verlegern Mut, in der Zeit des Medienwandels auf eine Kombination von Kauf- und Gratiszeitungen zu setzen: „Die Qualitätszeitungsleser wollen Eigenleistung, Hintergrund und Reportagen und sind künftig bereit, dafür auch mehr zu zahlen.“ Gleichzeitig bestehe die Chance, dass junge Leser und Nichtleser durch Gratiszeitungen zu Lesern werden und sich dann auch für
Qualitätskaufzeitungen interessieren.
Offenbar ist die Gratiszeitung das Übergangsphänomen eines umfassenden Veränderungsprozesses, in dem Verleger ihre Ressourcen auf klassische wie neue Medien zum Wohle des Lesers verteilen müssen. Wer von Zeitungskrise spricht, darf die Schwierigkeiten meinen, die die Kombination von Wandel und Wirtschaftskrise mit sich bringt, nicht aber das Sterben der gedruckten Zeitung. Im Gegenteil: Diese wird – wenn auch in anderer Form – den Wandel überleben.
„In 15 Jahren“, sagte Haller der „Neuen Zürcher Zeitung“, „bekommt der Abonnent seine Zeitung, auf die individuelle Nachfrage zugeschnitten, elektronisch ins Haus. Und der Verlag stellt ihm während der Dauer des Abonnements einen tollen Farb-DIN-A3-Drucker zur Verfügung und übernimmt die Wartung.“
Allerdings beschwören Berater diese Vision gerade auf Medienkongressen zum Schrecken aller klassischen Verleger immer wieder, dabei hat gerade jüngst die Schweizer Post unter dem Stichwort „personal news“ einen kleinen Test installiert.
Wenn diese Entwicklung erfolgreich verhindert werden soll, dann nur dadurch, dass sich Verleger und angestellte Verlagsmanager einem modernen Innovationsmanagement zuwenden, viel mutiger und engagierter neue Konzepte entwickeln lassen und an den Markt bringen. Die elektronischen Medien sind viel innovations- und experimentierfreudiger als gerade die Verlage und haben auch deshalb mehr Erfolg.
Die Kosten müssen dabei viel schonungsloser reduziert werden, als man bisher dazu bereit war, und insbesondere die Werbung treibende Wirtschaft muss den Willen zeigen, Experimente mitzugehen und die Versuche der Erneuerung zu unterstützen. Schließlich sind Tageszeitungen nach wie vor die glaubwürdigsten und Zeitschriften die zielgruppengenauesten Medien, die wir haben, und das nützt letztlich der Werbung treibenden Wirtschaft am meisten.
Beitrag von Harald Müsse im “FOCUS-Jahrbuch 2009“, erschienen im FOCUS Magazin Verlag, Herausgeber Wolfgang J. Koschnick; Preis: 29,90 Euro.
20.August 2009